Kapieren, nicht kopieren
Interview mit Bischofsvikar Jakob Bürgler

Im Bischofshaus treffe ich mich mit unserem früheren Diözesanadministrator Jakob Bürgler. Bischof Hermann hat ihn im Dezember letzten Jahres zum Bischofsvikar für missionarische Pastoral ernannt.

Hören wir „Mission", verbinden die meisten damit kirchliches Engagement in Afrika oder Asien. Was können wir uns unter „Missionarischer Pastoral" in der Diözese Innsbruck vorstellen?

Wir machen die Erfahrung, dass sich die Zeit radikal ändert und mit ihr auch die Kirchenbindung, die Zugehörigkeit zur Kirche. Die Frage, wie sich jemand in der Kirche beheimatet fühlt, wird ganz unterschiedlich beantwortet. Wir sind als Kirche durch diesen Umbruch sehr herausgefordert, weil wir neue Brücken bauen müssen und wollen zu Menschen, die grundsätzlich Interesse an spirituellen Fragen, an Lebensfragen haben, aber nicht mehr den Kontakt zur Kirche pflegen. Es geht darum, aus den Binnenräumen der Kirche hinauszugehen an die Orte, wo die Menschen leben. Hier heißt es, zuerst hören, was die Menschen bewegt, und teilnehmen an ihren Lebenserfahrungen. Natürlich bedeutet es auch, unsere Themen zu platzieren, unsere Gaben, unser Evangelium, um so Menschen mit dem Glauben neu in Berührung zu bringen. Unsere Pastoral soll missionarisch sein, das heißt, wir gehen hinaus, nicht weil wir Menschen nur zu uns hereinholen wollen im Sinne, wir sind der stabile Faktor, sondern wir lassen uns senden mit der Dynamik der Zeit, durch die Fragen der Zeit, von den Menschen und hoffen auf neue Brücken.

Bischof Hermann lädt ein zum Aufbau eines Netzwerkes kleiner pfarrlicher Weggemeinschaften. Ist das „Missionarische Pastoral"?

Ich unterscheide gerne zwischen einer Grundhaltung missionarischer Pastoral und ihren konkreten Projekten. Die Grundhaltung geht weit über konkrete Projekte hinaus. Sie fragt: Haben wir tatsächlich unseren Blick auf Menschen gerichtet, die nicht mehr oder noch nicht einen Zugang zum Evangelium haben? Haben wir uns tatsächlich entschieden, diese Blickrichtung konsequent zu verfolgen? Sind wir empfangsbereit, gewähren wir möglichst niederschwellig Eingang? Begrüßen wir Menschen, die kommen, einfach herzlich mit „Schön, dass ihr da seid!"? Haben wir uns wirklich entschieden, dass wir mit unseren Gottesdiensten Menschen berühren wollen? Das sind Grunddimensionen, die ganz wesentliche Kennzeichen missionarischer Seelsorge sind. Da gehört die Willkommenskultur dazu, die Orientierung an suchenden Menschen unserer Zeit. Da gehört die Frage der liturgischen Kultur dazu und auch die Frage der sogenannten kleinen Weggemeinschaften. Alle Regionen der Erde, die eine wachsende Kirchlichkeit haben, sind aufgebaut auf kleinen Gruppen. Teilweise sind es Basisgemeinschaften, teilweise pfarrliche Zellen. Missionarische Pastoral ist also eine Grunddynamik, die nicht nur Projekte betrifft, sondern alles, was wir tun – als Kirche, als Diözese mit ihren zentralen Einrichtungen, als Pfarrgemeinden. Als Bischofsvikar für missionarische Pastoral ist es meine Aufgabe, uns selber immer wieder daran zu erinnern, und durchaus auch kritisch hinzuschauen, ob das, was wir tun, auch diesen Grundlinien entspricht. Daneben gibt es ganz konkrete Arbeitsbereiche: Der eine Arbeitsbereich sind die Pfarren, und hier sind zum Beispiel die Weggemeinschaften ein prioritäres Ziel. Das unterstütze ich sehr! Ich möchte gerne mithelfen, dass in vielen Pfarrgemeinden dieses Projekt der Weggemeinschaften versucht wird, wir Erfahrungswerte sammeln und diese kleine Struktur der Beheimatung in den Pfarren aufbauen. Ein anderes Projekt betrifft die Vitalisierung von Pfarrgemeinden, also die Frage, wie wir an einigen Schrauben im pfarrlichen Leben so drehen, dass die Grunddynamik des pfarrlichen Lebens lebendiger, ansprechender wird. Dazu kommt die sogenannte City-Seelsorge, die Stadtseelsorge. Über sie sollen Menschen, die über die pfarrlichen Strukturen nicht mehr erreichbar sind oder bisher gar nie erreicht werden konnten, auch in Blick kommen. Wir haben immerhin im Großraum Innsbruck und in der Inntalfurche bis zu 90 % an Gläubigen, die ihren Kirchenbeitrag zahlen, aber eigentlich pfarrlich nicht beheimatet sind. Wie können wir zu diesen Menschen Brücken bauen, wie können wir diese Menschen mit unserer Frohen Botschaft erreichen? Da ist die City-Seelsorge eines der Modelle, und meine Aufgabe wird sein, das in Innsbruck auf den Weg zu bringen. Insofern gibt es also unterschiedliche Ebenen des Arbeitens, Pfarre oder der Raum zwischen den Pfarren im Sinne der Stadtseelsorge. Und dann geht's sicherlichlich auch darum, wie wir mit einer neuen Initiative Glaubenskurse oder die Begegnung mit den Inhalten unseres Glaubens wieder fördern können. Hier gibt es einige Modelle, die schon praktiziert worden sind, und vielleicht gibt es auch wieder neue Modelle, wie Menschen eingeladen werden können, über ihr Glaubensbekenntnis, über ihren konkreten Glauben nachzudenken.

Du warst als Kundschafter missionarischer Pastoral an einigen Orten im deutschsprachigen und europäischen Raum für uns unterwegs und darüber hinaus auch in anderen Erdregionen. Was können wir aufgreifen für Tirol. Wo siehst du die Grenzen der Übertragbarkeit?

Ein Satz aus Baltimore ist mir hier wichtig geworden: „Kapieren, nicht kopieren!" Es geht nicht darum, dass wir, was irgendwo lebendig ist, einfach kopieren. Das funktioniert nicht, weil die kulturelle und personelle Situation eine andere ist und ebenso die dazugehörige Geschichte. Es geht darum, die Grundprinzipien seelsorglicher Aufbrüche zu verstehen und deren Auslöser zu erkennen. Immer geht es darum, zu verstehen, was sind die Motive, was sind die Kräfte, die freigesetzt worden sind, die Grundanliegen. In Amerika habe ich vor allem eine Fokussierung auf Menschen erlebt, die für unser Evangelium noch erreichbar sein können. Wichtig ist, dass wir uns nicht zu sehr zufrieden geben mit dem, was wir erreicht haben – „Wir haben ́s eh so nett als Pfarrgemeinde und so viele Gruppen..." – sondern uns fragen, wie schaffen wir es, andere Menschen einzuladen. Wie gelingt es, heute in unserer Zeit Menschen mit der Frohen Botschaft zu berühren? Das ist etwas, was kulturübergreifend ist, nicht abhängig von einer nationalen Prägung. Natürlich sieht eine kleine Gemeinschaft in Amerika anders aus als bei uns oder in Afrika und Asien. Die Frage ist: Wie kann bei uns ein Grundmodell einer kleinen Weggemeinschaft so beschrieben werden, dass es Menschen einlädt, motiviert mitzumachen? Bei den City-Kirchen verhält es sich ähnlich. Und die Vorstellung, dass da plötzlich ein „Wunderfutzi" ist, der von heute auf morgen alles verändert, das spielt sich nicht! Es geht um kleine Schritte, die langsam eine Bewegung in Gang setzen. Es geht primär um offenen Raum, offene Türen um einen Platz, wo man einfach sein kann, wie man ist, mit den Fragen, mit den Lebenserfahrungen, die man hat. Es geht darum, einzutreten in diese unterschiedlichen Lebensbereiche von Kultur, Spiritualität, Musik, Schauspiel und andere Dimensionen – in ein Potpourri von Lebensbereichen.

Bei manchen Aufbrüchen ist die Bibelarbeit wesentlich. Welche Bibelstelle inspiriert dich persönlich am meisten in der neuen Aufgabe für missionarische Pastoral?

Das ist eine spannende Frage, welche Rolle die Bibel bei diesen Erneuerungsprozessen spielt. Manchmal habe ich den Eindruck, die Orientierung ist stärker an den Themen als an der Bibel. Ich selbst verfolge eher ein anderes Modell: Ich lebe stark aus einer biblischen Spiritualität, ich glaube, dass die Bibel immense Kraftpotenziale birgt, um uns zu bewegen und neu auszurichten. Für mich selbst ist schon viele Jahre die Erzählung von Zachäus Leitmotiv. Dieser Mensch, der scheinbar alles hat und alles kann, der keine Sorge am Leben zu haben braucht, dieser Zachäus hat eine innere Frage, er möchte diesen Jesus kennenlernen, ist fasziniert von ihm, aber er kommt einfach nicht hin zu ihm, weil er zu klein ist, weil ihm die Voraussetzungen nicht gegeben sind und weil dort Menschen sind, die ihm die Sicht verstellen. Mir stellt sich die Frage, ob wir nicht auch als Kirche oder ich als Person oder wir als Gemeinschaft manchmal mit dem, was wir verkünden, die Sicht verstellen – mit unserer Art, mit unserer Prägung. Lerne ich daraus, dass wir ganz achtsam sein sollten auf die „Bäume unserer Zeit", auf denen die Menschen „hocken", und daraus, wie Zachäus auf dem Baum hockt und einen Blick von dort auf Jesus werfen kann, und wie Jesus aufmerksam auf ihn wird und diesen Augenblick nützt, um ihn zutiefst zu berühren und einzuladen? Das ist für mich das Wesentliche: Wie schaffen wir es, erstens den Blick von dem, was wir haben, was wir sind, zu lösen – in aller Dankbarkeit für das, was historisch gewachsen ist, was uns geschenkt ist, was wir aufgebaut haben, loszulassen und unseren Blick viel stärker hinzurichten auf die Unberechenbarkeit menschlicher Existenz, auf Menschen, die vielleicht auch unseren Blick erwarten oder sich wünschen oder irgendeine Ansprache ersehnen? Wie geht es, unseren Blick hinzurichten, auf die „Bäume unserer Zeit"?

Welche Menschen kommen dir in den Sinn, die uns ein Beispiel geben für eine Haltung, in der es gelingt, weiter Kirche zu sein oder neu zu entdecken?

Für mich ist das lebendigste Beispiel unser Papst! Er wird nicht müde, neue Wege zu gehen im Bewusstsein einer tiefen Prägung durch den Glauben. Er lebt dabei aus einer inneren Stabilität, die verbunden ist mit einer großen Dynamik, auf andere zuzugehen. Für uns in Innsbruck ist auch Diözesanpatron Petrus Canisius wichtig: In der schwierigen Zeit der Reformation und des Durcheinanders hat er neue Wege beschritten, um seinen Zeitgenossen wieder die Schönheit katholischen Glaubens zu erschließen. Er ist nicht müde geworden, über Glaubensunterweisung, über Predigt und die ganz konkrete Begegnung mit Menschen eine neue Bewegung anzustiften. Eine Quelle, aus der ich lebe, ist die Gemeinschaft von Taizé, Frère Roger. Er wollte keine weltweite Bewegung, sondern eine kontemplative Gemeinschaft gründen. Doch er bewegt Massen junger Menschen. Mit seiner Bruderschaft hätte er entscheiden können, diese jungen Menschen gehen uns nichts an. Doch er hat gespürt, im Gegenteil, diese vielen jungen Menschen sind eine Berufung, wir haben eine Sendung für sie. Aus dieser List des Hl. Geistes ist dann eine Bewegung geworden, die unglaublich Früchte trägt. Deshalb die Frage an uns: Wie können wir die Zeichen der Zeit entdecken, wann zeigt sich uns ein Zeichen? Wann müssen wir das Zeichen anpacken, damit wir dem Weg folgen, auf dem uns der Hl. Geist lenkt?...

Wir haben von Martin Luther King das Wort „Ich habe einen Traum". Wie führst du diesen Satz weiter bezogen auf Kirche?

Wir leben momentan in einer Zeit, in der wir als Kirche ein „Trauma" haben. Ein „Trauma der Ohnmacht"! Alle merken, es brechen uns Dinge zusammen, wir werden schwächer und tun uns so schwer, nachhaltig unseren Glauben weiterzugeben. Dieses Trauma macht uns müde und nimmt so viel Kraft. Wir haben wenig Kraft, um aus dieser Mühe herauszusteigen und etwas Neues zu beginnen. King hat nicht gesagt, „Ich habe einen Plan!", sondern „Ich habe einen Traum!" Aber das, was wir von uns selbst und andere von mir erwarten, ist ein Plan: „Was machst du jetzt? Welche Schritte setzt du?", das kann ich nicht beantworten. Wenn ich gefragt werde, welchen Traum ich habe, dann sage ich: Ich habe den Traum, dass wir das Innerste unserer Botschaft, die Freude des Evangeliums, in einer Sprache, die Menschen heute anrührt, bewegt, verkünden können und dass Menschen auf ganz unterschiedliche Weise, Ebenen, diese Freude auch spüren. Ich habe kein Modell im Kopf, von dem ich sage, das muss für alle zu 100 Prozent so gelten. Wir erleben seit einigen Jahren eine starke Pilgerbewegung, verbunden mit dem Anliegen sich im Glauben zu vertiefen. Das kann so ein Weg sein. Oder es gibt nicht wenige Menschen in unserer Diözese, die jedes Jahr Exerzitien im Alltag machen. Auch ihnen geht es darum, ihrer Berufung auf die Spur zu kommen. Wunderbar, ganz vielfältig diese Wege der Glaubens- und Kirchenerneuerung: Immer mit dem Anliegen, wieder zu entdecken, was wir als Christinnen und Christen als Schatz in unserem Herzen und in unserer Gemeinschaft tragen. Das ist der Traum, der mich begleitet. Wie das geht in einer Zeit, die von den äußeren Bedingungen sehr säkular ist und noch säkularer wird, da habe ich keine Antwort, keinen Plan. Aber ich habe die Hoffnung, dass uns dennoch gute und fruchtbare Schritte gelingen.

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